Bericht von Wera Dmitrijewna Scholobowa die 1942/43 in Stalingrad überlebt hat

Auszug aus dem Buch "... und die Wolga brannte" des Vereins zur Förderung der Städtepartnerschaft Köln-Wolgograd e.V.

 

Im Jahre 1942 war W.D. Scholobowa 14 Jahre alt.

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Entfernte und mir unbekannte Zeitgenossin aus Deutschland, vielleicht sogar nahe und liebe Freundin, wenn der Krieg unsere Stadt nicht verschlungen, eine große Zahl von Menschenleben, Erwachsene und Kinder, fortgenommen hätte, das glückliche und friedliche Leben zerstört und unser Schicksal verändert hätte.

Nicht Sie und ich haben diesen schrecklichen Krieg begonnen - zu dieser Zeit waren wir Halbwüchsige, aber wir waren in der Lage, diese sinnlose Grausamkeit, die der Krieg hervorbrachte, einzuschätzen, und wir haben nicht das Recht, sie zu vergessen, und sei es deshalb, dass der Frieden auf der Welt über alles geachtet und alles Mögliche getan wird, um ihn zu erhalten.

Uns trennen viele Kilometer, möglicherweise werden wir uns nie treffen, aber ich möchte gern, dass Sie sich vorstellen können, wie wir in jener fernen Vorkriegszeit lebten, was wir liebten und schätzen.

 

Unsere Stadt, Stalingrad, ähnelte überhaupt nicht der heutigen Stadt. Es gab wenige große Häuser in denen meistens Verwandte wohnten. Die Eltern meines Vaters hatten 13 Kinder, von denen sechs im Säuglingsalter starben, sieben hatten Familien, drei Brüder und eine Schwester wohnten in unserem Hof, jeder in seinem Haus, insgesamt 22 Personen, nach der Bombardierung der Stadt blieben nur sieben übrig. Ein guter Prozentsatz? Und der Tod traf sie nicht im Bett, das waren schreckliche Tode. Meiner Tante wurde der Kopf von einem Geschoß abgerissen und auf einen Haken geschleudert, dort verhakte er sich mit seinen prachtvollen Haaren; so schaukelte der Kopf und blickte mit toten blauen Augen auf die verkohlte Leiche ihrer Tochter Tanja. Die siebenjährige Milotschka verblutete und starb in den Armen ihrer verwundeten Mutter. Meine kleine Freundin Tanja Popowa verbrannte im Haus zusammen mit ihrem Brüderchen und der Großmutter, und ihre Mutter verlor den Verstand ob dieser Erschütterungen. Der 15jährige Cousin war ein halbes Jahr im Konzentrationslager. Was soll ich da aufzählen? Das Papier reicht dafür nicht aus!

Wie lebten wir bis zum Untergang unserer Stadt? Unser Häuschen war 52 Quadtratmeter groß, nach Osten gab es eine große Veranda und nach Süden eine mit Wein zugewachsene Terrasse. Im Sommer ist es in Stalingrad heiß, in der Sonne werden es sogar 48 bis 51 Grad, deshalb hatten wir Läden vor den Fenstern und die Sonnenseite wurde durch Terrassen und Veranden geschützt. Auf dem Hof gab es viele Bäume: eine Pyramidenpappel, einen Maulbeerbaum, sechs Ahornbäume, Kirsch- und Pflaumenbäume. Der Blumengarten war hinter dem Zaun mit Georginen, meine Mutter hatte sie angepflanzt. Meine Tanten und Cousinen kümmerten sich um die Rosen, die Astern, die Cosmeen, die Petunien und die Tabakpflanzen. Am Ende des Hofes bauten wir Gemüse an.

Meine Eltern waren Lehrer. Als die Ältesten der Familie halfen sie bei der Erziehung und beim Unterhalt der Brüder und Schwestern mit. Mein Vater war der Taufpate der fünf Kinder seiner früh verwitweten Schwester, und sie nannten ihn sogar Papa Mitja.

Ich erinnere mich an das abendliche Teetrinken im Sommer auf der Terrasse, als 10 bis 12 Leute am Tisch saßen. Auf dem Tisch prangte ein riesiger Samowar. Wir tranken in Muße Tee, unterhielten uns über Theater und Bücher. Danach sangen wir, begleitet von zwei, drei Gitarren, russische und ukrainische Lieder, alte Romanzen. Die Grillen zirpten. Die Kinder saßen auf der Treppe, flüsterten miteinander

Waren wir reich? Nein, aber wir waren mit allem versorgt. Der einzige Schatz waren die Bücher. Vater hatte ein Viertel der Bücher des Bibliophilen Remmer gekauft. Es waren viele: Sie waren in zwei großen und drei kleinen Schränken und in zwei Truhen untergebracht. Ich begann früh zu lesen und meine Lieblingsbücher in dieser Zeit waren die Märchen der Gebrüder Grimm, von Hauff, Perro, Puschkin, Schukowskij, Andersen, "Reineke Fuchs" von Goethe, , "Rusalka" von Puschkin, "Aschik-Kerib" von Lermontow, "Die versunkene Glocke" von Hauptmann, das "Waldlied" von L. Ukrainka, "Schneewittchen" von Ostrowskij, "Der kleine Lord Fauntleroy" von Burnett. Mit zehn Jahren las ich alles, was mich irgendwie anzog: Shakespeare, Goldoni, Lopez de Vega, Molière, Euripides, Homer, die Klassik. Zu dieser Zeit malte ich ganz gut, meine Arbeiten sah sich der Künstler N. N. Ljubimow an, er versprach mir, mich nach Beendigung der siebenklassigen Schule zu unterrichten. Die Eroberer hängten ihn auf.

Unser Haus brannte ab, unser patriarchalisches Familienleben zerbrach. Wir schafften es noch auf die andere Seite der Wolga überzusetzen, allerdings fast ganz ohne Sachen.

Ich hatte eine glückliche Kindheit und eine schwere, von Hunger und Kälte erfüllte Jugend. Wir waren überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass es nach dem Willen eines einzelnen Menschen oder einer Gruppe von Menschen möglich ist, eine Stadt buchstäblich von der Karte auszuradieren, Familien zu vernichten, Menschen der Möglichkeit zu lesen zu berauben, die heranwachsende Generation in den Kampf um ein Stück Brot oder das Dach über dem Kopf zu stürzen, den Menschen in seiner Entwicklung zu beschränken: Bibliotheken wurden auf der Grundlage dessen, was gerettet worden war, zusammengestellt, Museen entstanden buchstäblich aus dem Nichts durch den Enthusiasmus der Museumsmitarbeiter. Das kann man wohl als die Ermordung der Seele einer Generation bezeichnen. Und dennoch wurde die Stadt dank des Patriotismus der Menschen wieder aufgebaut, dank ihrer Liebe zum verbrannten, geschändeten und besudelten Heimatland. Es wäre einfacher gewesen, wie die Amerikaner rieten, die Stadt an neuer Stelle wieder aufzubauen, aber solch einen Ratschlag fasste man wie einen Aufruf zum Verrat auf, als Vorschlag, die verletzte und entehrte Mutter im Stich zu lassen.

Ende Februar 1943 kehrten meine Eltern in die Heimatstadt zurück. Ihnen fiel das Los zu, die Kinder für die Schule zu sammeln. Es gab fast keine Häuser mehr, das Volk hauste in Kellerlöchern und Deckungsgräben (Schutz zur Kriegszeit), es gab keine Bücher, Lehrbücher, Hefte, geschrieben wurde zwischen die Zeilen der Bücher, die in den Trümmern gefunden wurden. Man musste das Wissen bei den Kindern wieder auffrischen, die mehr als ein Jahr kein Buch mehr in der Hand gehabt hatten. Ich beendete zu dieser Zeit die achte Klasse in einem Dorf auf der anderen Seite der Wolga und kehrte erst am 3. Juli 1943 in die Stadt zurück.

 

Stalingrad lag in Trümmern, zugewachsen mit Melde und Brennesseln. Schmale Pfade, an deren Seiten an Pfählen festgebundene Stofffetzen bunt leuchteten, wiesen dem Vorbeigehenden einen von Minen ungefährdeten Weg. Mein Vater war zu dieser Zeit Direktor der Schule Nr. 3 (sie befand sich in der Ladoschskaja-Straße in zwei unbeschädigten kleinen Häusern), unsere Sachen lagen im Rumpelkämmerchen, in den Zimmern wurde in zwei Schichten unterrichtet, anschließend haben meine Mutter und ich die Fußböden geputzt, eine Decke ausgebreitet und uns schlafen gelegt: Es war nämlich sehr schwer, den ganzen Tag auf den Beinen zu sein. Bald begann ich im städtischen Pionierlager als Pionierleiterin zu arbeiten. In den Trümmern der Eisenbahnschule Nr. 1 wurde im Vestibül eine Küche eingerichtet, wo das Frühstück, Mittagessen und die Zwischenmahlzeiten für die Kinder vorbereitet wurden, die hier einen Teil ihrer Marken von den Lebensmittelkarten abgaben. Das wichtigste aber war, dass die Kinder in einer Gruppe lebten und unter Aufsicht waren. Nach dem Frühstück kehrten die Mädchen das Gelände und die Jungen sammelten mit mir zusammen Holz für den Herd.

Eines Tages rief mich einer der Jungen zur Seite und zeigte mir, was er entdeckt hatte, als er Bretter fortgewälzt hatte. Eine schwarzblaue weibliche Hand, mit vertrockneter Haut bedeckt, mit einem Verlobungsring am Finger. Anscheinend hatte die Frau versucht sich aus den Mauern des Hauses zu befreien, die sie bedeckten, aber sie hatte es nicht geschafft.

Die Hand hatten zwei Kinder gesehen. "Wieder zudecken?" fragte der ältere. "Zudecken, natürlich zudecken, die Kinder dürfen das nicht sehen!" rief der neunjährige Borka T., er wusste Bescheid: seine Mutter war in Gegenwart von Borka und seiner kleinen Schwester vergewaltigt worden und anscheinend war die Gruppenvergewaltigung durch Soldaten und Offiziere bei weitem kein Einzelfall, wie ich von ehemaligen Klassenkameradinnen erfahren habe, die selbst Opfer geworden waren - selbst junge Mädchen haben sie nicht verschont.

Diese beiden Jungen waren in jeder Beziehung erfahrener als ich. Die Mutter von Borka verlor den Verstand, aber er ließ sie bis zu ihrem Tod nicht allein, er gab sie nicht ins Krankenhaus und auch nicht ins Pflegeheim.

 

Wahrscheinlich haben Sie, meine ferne Gesprächspartnerin, etwas Ähnliches bereits erwartet als natürliche Folgen des Krieges.

Wie hat sich mein Schicksal weiter entwickelt? 1944 starb mein Vater (er war erst 60 Jahre alt) an Hunger und in dem Wissen, dass er jetzt und auch in naher Zukunft kein Dach über dem Kopf haben wird. 1945 ging ich nach Beendigung der Schule zum Pädagogischen Institut und besuchte die Fakultät für Literatur. In diesem Jahr erwarben meine Mutter und ich den ehemaligen Verschlag für einen Traktor, bestrichen ihn mit Lehm und lebten dort bis 1953.

1947 wurde meine Mutter sehr krank, ich begann ein Fernstudium und begann in der Schule zu arbeiten. Und obwohl unser Kasten mehr einer geräumigen Hundehütte ähnelte, bei den damaligen Verhältnissen galt er als Haus.

1953 gab man uns ein Zimmer in einem fünfstöckigen Haus. Jetzt wohne ich in einer Einzimmerwohnung in einem neunstöckigen Haus, Verwandte habe ich kaum noch, sie sind in eine andere Welt vorangegangen.

Es ist ganz klar, der Krieg ist eine entsetzliche Erscheinung und man muss alles tun, damit er sich nicht wiederholt, aber dafür müssen wir einander besser kennen.

In unserer Stadt gibt es eine Kapelle "Christus der Versöhner", sie ruft zur Versöhnung Ihres und unseres Volkes. "Friede allen Menschen", dazu ruft unser Priester auf, und wir fühlen mit ganzem Herzen und ganzer Seele, wie wichtig es ist, Frieden in der Seele und in der Welt zu haben, obgleich man mit allen Anstrengungen des Geistes die Erinnerung an die Verluste nicht vergessen machen kann.

Man könnte sagen: "Das ist alles Gottes Wille", und man könnte mit Sanftmut und Demut alle Verluste hinnehmen. Aber Gott hat dem freien Menschen einen freien Willen gegeben, er wollte ihn als Schöpfer sehen, der die Welt schöner macht, aber sie nicht zerstört. Er hat für uns Menschen die Welt erschaffen, hat uns das Leben und seine so überaus menschliche Lehre geschenkt, und uns bleibt zu leben, indem wir uns an das Vermächtnis halten: " Auf dass die Herzen der Menschen mit Liebe und Freude erfüllt seien, auf dass das Sinnen auf die gute Tat gerichtet sei".

 

Wera Dmitrijewna Scholobowa, Pensionärin, Kind Stalingrads (gemeint ist die Vereinigung "Kriegskinder von Stalingrad"), 70 Jahre

Eingang: 28.09.98